Die Last der Kommunikation

von

Im Interview mit Mathias Weihbrecht – Audiotherapeut aus Hardheim

„Die Last der Kommunikation ist nie von mir gewichen“

Dieses Zitat während eines Vortrags des Audiotherapeuten Mathias Weihbrecht hat mich sehr beeindruckt und nachdenklich gestimmt.

Ich habe Mathias Weihbrecht bei einer Veranstaltung der Hörgeschädigten-Selbsthilfe in Baden-Württemberg kennengelernt. Er ist selbst Hörgeräte- und CI-Träger und hat im Rahmen der Veranstaltung sein Konzept des Kommunikationspuzzles vorgestellt.

Sein Vortrag begann mit einem Erfahrungsbericht: Wie sieht ein typischer Tag eines hörgeschädigten Menschen aus? Mit welchen Anstrengungen und Belastungen ist er in den verschiedensten privaten und beruflichen Situationen konfrontiert?

Seine eindrückliche Schilderung, wie kräftezehrend es ist, wenn man die Last einer gelingenden Kommunikation alleine trägt, hat mich sehr berührt und betroffen gemacht. Und mein erster Impuls war: Alle Guthörenden sollten darüber Bescheid wissen und ein Verständnis und Bewusstsein dafür entwickeln, was bei der Kommunikation mit hörgeschädigten Menschen zu beachten ist.

Beeindruckt hat mich aber auch sein Ansatz, mit dem er hörgeschädigte Menschen unterstützt …

Lieber Herr Weihbrecht,

Sie verwenden in Ihrem Vortrag den Begriff „Straße der Kommunikation“ als das verbindende Element für das Miteinander von Guthörenden und Hörgeschädigten. Warum ist das Beschreiten dieser Straße immer noch so schwierig? Welche Hemmnisse stehen den Betroffenen dabei im Weg?

Es gibt den Begriff der „Kommunikationsbrücke“ von Jochen Müller. (Anmerkung: J. Müller ist Kommunikationstrainer u. Berater f. Menschen m. Hörverlust)
Diese Brücke wird von zwei Seiten aufgebaut: auf der einen Seite stehen die schwerhörigen Menschen, auf der anderen die hörenden Gesprächspartner.

Jochen Müller geht davon aus, dass mit der technischen Versorgung durch Hörgerät oder Cochlea Implantat die eigentlichen Kommunikations- und Lebensprobleme mit einer Hörbehinderung nicht enden. Er begründet das damit, dass niemand die Betroffenen dabei unterstützt, den Umgang mit der Hörbehinderung zu lernen.

Viele Bausteine können dann helfen, trotz Hörbehinderung zu einer – einigermaßen – erfolgreichen Kommunikation zu kommen, und dies kann Frustration und Einsamkeit vorbeugen.

Bevor der hörgeschädigte Mensch aber die Kommunikationsbrücke beschreiten kann, muss er erst auf die „Kommunikationsstraße“ kommen.

Was bedeutet das? Bei jeder Kommunikation steht ein hörgeschädigter Mensch unter einem enorm hohen Druck. Er erlebt den hörenden Gesprächspartner als überlegen, und es entwickelt sich häufig ein latentes Gefühl der Minderwertigkeit.

Kommen missverständliche Kommunikationssituationen dazu, verstärkt sich dieses Gefühl enorm. Abhängig vom Zustand des Betroffenen und dem Grad der Schwerhörigkeit kommt es zu Angst, Hilflosigkeit, Überforderung, Energielosigkeit und innerer Leere.

Oft reagieren Betroffene auch mit der sogenannten Verstecktaktik. Es entsteht eine „Scheinkommunikation“. Sie wechseln entweder das Thema, reißen das Gespräch an sich oder tun so, als ob sie alles verstanden haben.

Man redet sich die Hörschädigung schön. „Es geht doch, und so schlimm ist das nicht. Ich verstehe eigentlich noch alles, ich brauche noch kein Hörgerät oder CI.“

Hier möchte ich klarmachen, dass das Verstecken der eigenen Behinderung nicht möglich bzw. wenig sinnvoll ist. Die Stigmatisierung der Hörbehinderung und die daraus entstehenden Identitätsstrategien müssen aufgebrochen werden. Hierfür braucht es Aufklärung über die eigene Situation, Akzeptanz der Hörbehinderung und einen offenen Umgang damit. Das sind die notwendigen Grundlagen, um die Kommunikationsstraße beschreiten zu können.

Sich die eigenen Grenzen und Schwächen einzugestehen und die Hörbehinderung für andere sichtbar und erkennbar zu machen, ist nicht einfach. Dabei möchte ich unterstützen.

Was verbirgt sich genau hinter dem Begriff Audiotherapie und wie kann sie betroffenen Menschen unterstützen?

Audiotherapie ist eine Maßnahme zur Stärkung des individuellen Hörens und Verstehens und dient der Verbesserung der Kommunikation. Ein aktiver Umgang mit der eigenen Hörstörung bedeutet fast immer eine wesentliche Steigerung der Lebensqualität. Mit „Hilfe zur Selbsthilfe“ kann mehr Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht werden, die „Last der Kommunikation“ wird verringert.

Die Gruppe der hörgeschädigten Menschen ist ein sehr komplexer und heterogener Personenkreis. Dabei kann man vom individuellen Hörvermögen nicht selbstverständlich Rückschlüsse auf das Kommunikationsvermögen oder weitere psychosoziale Auswirkungen ziehen. D.h. die Kommunikationskompetenz ist nicht automatisch abhängig vom Grad der Hörschädigung.

Mit verschiedenen Therapiemaßnahmen, die auf die Betroffenen individuell abgestimmt sind, wird die eigene Handlungskompetenz gestärkt.

Audiotherapie unterstützt dabei, die eigene Hörstörung zu bewerten und anzuerkennen und vermittelt Bewältigungsstrategien.

Audiotherapie stärkt das Selbstbewusstsein, und das im doppelten Sinne: Durch sie erlangen Menschen mit Hörschädigung eine positive und selbstsichere Einstellung zur eigenen Selbstwirksamkeit UND sie lernen, die eigenen Fähigkeiten und Grenzen realistisch einzuschätzen.

Audiotherapie hilft, die Kommunikationsfähigkeit zu verbessern, z.B. durch den Einsatz von Hilfsmitteln und/oder das Aneignen optischer Verständnishilfen (Absehen von den Lippen).

Portrait Mathias Weihbrecht

Mathias Weihbrecht, Audiotherapeut

Wie sind Sie zur Audiotherapie gekommen?

Im Jahr 2011 hatte ich plötzlich Schwierigkeiten mit der Konzentration. Ich war ständig müde und antriebslos. Ein Burnout stand im Raum. Und so machte ich Anfang 2012 eine Reha in der Baumrainklinik Bad Berleburg, und zwar in der Fachklinik für Hörstörungen.

Hier bin ich zum ersten Mal einem Audiotherapeuten begegnet. Bereits in der ersten Sitzung ist es dann passiert, ich habe meine Geschichte erzählt und meine Probleme aufgezählt. Am Ende sagte mir der Audiotherapeut: „Mathias, du machst eigentlich alles richtig. Du machst nur einen Fehler, du stellst dich auf das Niveau der Hörenden.“

Mit diesem Satz hat er mir klargemacht:

 „40 Jahre lang hat dein Körper sich jeden Tag Kredit bei der Bank geholt.

 Du arbeitest und lebst in der hörenden Welt. Du musst aber jeden Tag 150 % Leistung bringen, also immer 50 % mehr, als du eigentlich zur Verfügung hast.

Jetzt hat die Bank, also dein Körper, gesagt, es gibt keinen Kredit mehr. Und das hat die Kettenreaktion in Gang gesetzt.“

Ab diesem Zeitpunkt ging es für mich nur noch bergauf. Ich habe gelernt, dass ich nicht immer 150 % leisten kann, und habe entsprechende Maßnahmen und Veränderungen eingeleitet, auch in meinem beruflichen Umfeld.
Z.B. habe ich in einem Meeting gesagt: „Ihr wisst, ich bin schwerhörig. Ich habe bisher immer das Protokoll geschrieben, das kann ich nicht mehr leisten. Schreiben und gleichzeitig das Mundbild verfolgen, das geht nicht. Ich würde das gern jemand Anderem geben.“ Entgegen meiner Befürchtung ist mein Vorstoß sehr positiv aufgenommen worden. Und das hat Raum geschaffen für andere Themen bei meiner Arbeit.

Die Audiotherapie hat mich fortan nicht mehr losgelassen. Und so habe ich im Jahr 2016 die Ausbildung zum Audiotherapeuten beim DSB absolviert und möchte seitdem meine Erfahrungen und mein Wissen an andere Betroffene weitergeben.

„Das Leben erleichtern“ ist ein großes Leitmotiv in Ihrem Konzept, das Sie in mehreren Modulen immer wieder aus verschiedenen Blickwinkeln aufgreifen. Können Sie uns diese kurz vorstellen?

Jeden Tag kommen viele Hürden der Kommunikation auf uns zu. Es gibt unzählige Situationen in Alltag und Beruf, die über Kommunikation gelöst werden müssen. Mit der zunehmenden Beschleunigung unserer Welt wird es immer schwieriger, den (Arbeits)-Alltag zu meistern:
Aufgaben müssen schnell erledigt werden. Die Sprechgeschwindigkeit erhöht sich. Es bleibt kaum Raum für eine klare, deutliche Aussprache. Und dann kommt noch die “Kopf-Unten-Generation“ dazu – der Blick ist auf Laptop oder Handy gerichtet, und man schaut sich beim Gespräch nicht mehr an – es gibt also kein Mundbild.

Die „Last der Kommunikation“ wird immer da sein. Wenn aber jeder Tag mit einer kommunikativen Überforderung einhergeht, sind emotionale, psychische und physische Erschöpfung vorprogrammiert. Audiotherapie hilft, durch Empowerment die Schwierigkeiten schwerhöriger Menschen in Alltag und Beruf zu erkennen, zu benennen und deutlich zu reduzieren.

Mein Konzept ist in verschiedenen Modulen aufgebaut.

Zunächst ist es wichtig, die eigene Hörbehinderung zu verstehen. Wie lese ich z.B. mein eigenes Audiogramm und was bedeutet das für das Verstehen von Sprache? Dann geht es um die Akzeptanz der eigenen Hörbehinderung, die Anerkennung der eigenen Grenzen und Möglichkeiten. Das ist auch ein Stück weit Trauerarbeit, die geleistet werden muss.

Nur wenn ich diese Schritte gegangen bin, kann ich offen mit meiner Hörbehinderung umgehen und sie nicht mehr verstecken.
Das sind die Voraussetzungen, um meine Wahrnehmungs- und Handlungskompetenz zu entwickeln und um auf die Kommunikationsstraße zu kommen.

Erst dann geht es in den Modulen 4 bis 6 um konkrete Strategien und Maßnahmen, die ich im Alltag anwenden kann. Hierzu gehören u.a. die Themen Hör- und Kommunikationstaktik, Hör- und Absehtraining sowie technische Hilfsmittel.

Mein Ziel ist es, Lösungswege und Handlungsoptionen aufzuzeigen, um eine bessere Kommunikationsfähigkeit mit der Schwerhörigkeit zu gestalten und somit eine höhere Lebensqualität zu erlangen.

Das hat einen positiven Effekt auf die Entwicklung einer selbstbewussten und handlungskompetenten Persönlichkeit. Die Betroffenen werden befähigt, Barrieren zu erkennen, diese anzusprechen und Lösungen dafür zu suchen und vor allem die Umsetzung der Lösung aktiv voranzubringen.

In dieses „Audiogramm to go“, das Mathias Weihbrecht einsetzt, können Betroffene ihre individuelle Hörkurve einzeichnen. So wird direkt sichtbar, wie sich ihr Hörvermögen auf das Verstehen von Sprache und die Kommunikation auswirkt.

Wie kam es zu Ihrem Konzept des Kommunikationspuzzles und was ist das Besondere daran?

Nach der Audiotherapie-Ausbildung bin ich viele Wege gegangen, um betroffene Menschen zu erreichen und sie für die Audiotherapie zu begeistern.

Ich habe verschiedene Vorträge zum Thema Schwerhörigkeit gehalten und eine Zusammenarbeit mit einem Akustiker gestartet. Die Vorträge waren immer sehr gut besucht, und es gab viele positive Rückmeldungen. Danach sind alle nach Hause gegangen, und nichts weiter ist passiert.
Ich habe gemerkt, ich muss Schritt für Schritt das Vertrauen der Menschen gewinnen, das schaffe ich nicht mit einem Vortrag. Denn die Stigmatisierung, die mit der Hörbehinderung verbunden ist, ist sehr groß. In meinen Vorträgen konnte ich nur einen kleinen Stein aus dieser Stigmatisierungsmauer brechen.

Danach habe ich mein Konzept des Kommunikationspuzzles mit dem modularen Aufbau entwickelt.
Jede Woche wird nacheinander eines der sechs Module in einem Zeitfenster von 1 – 1,5 Stunden behandelt. Das ist ganz bewusst ein kostenloses und niedrigschwelliges Angebot, an dem die Menschen teilnehmen können. Durch die Pause zwischen den Modulen gibt es die Möglichkeit zur Reflexion. Die Resonanz der Hörgeschädigten, aber auch ihrer Partnerinnen und Partner, die ebenfalls teilnehmen können, ist überwältigend.

Mit den ersten drei Modulen des Kommunikationspuzzles schärfen wir Wahrnehmung und Handlungskompetenz und bringen die Menschen auf die Kommunikationsstraße. Danach sind sie bereit, sich in den Modulen 4 bis 6 mit den Strategien und Maßnahmen auseinanderzusetzen.

Die Idee ist, die Leute für das Thema Hörschädigung und den selbstbewussten Umgang damit zu sensibilisieren. In der Gruppe kann man sich offen beteiligen oder auch nur zuhören. Und wer nach den sechs Modulen für sich erkannt hat, wo und wie die Audiotherapie ihn stärken und empowern kann, der kann von mir natürlich weiterhin im Einzelsetting begleitet werden.

Leider werden die Kosten für Audiotherapie noch nicht als Kassenleistung übernommen. Aber diese Unterstützung, die Audiotherapeuten leisten können, gibt es nicht beim HNO-Arzt, nicht beim Akustiker und nur ganz selten in den Kliniken.

Was ist Ihr Wunsch / Ihre Vision für die Zukunft?

Ich wünsche mir, dass die Bedeutung der Audiotherapie auch von den Krankenkassen anerkannt wird – dafür setzt sich auch der DSB ein.

Nach einer Versorgung mit Cochlea Implantat gibt es zwar eine spezifische Rehabilitation und Hörtrainings. Nach einer Hörgeräteversorgung durch den Akustiker ist die direkte Hilfestellung aber in der Regel abgeschlossen. Mit der Erkenntnis, dass eine Hörgeräteversorgung die Kommunikationsproblematik nur unzureichend oder gar nicht verbessert, wird der schwerhörige Mensch allein gelassen. Der Umgang mit der hörenden Welt wird nicht trainiert.

Ich wünsche mir, dass die Audiotherapie bekannter wird und viel stärker in den Köpfen der Menschen ankommt.

Es gibt so viele von Hörschädigung Betroffene, die noch gar nicht oder nicht ausreichend versorgt sind. Und diese Menschen möchte ich mit dem Kommunikationspuzzle erreichen, damit sie nicht in die Isolation geraten oder wieder aus ihr herauskommen.

Das gilt vor allem für den ländlichen Raum, wo die Unterstützungsangebote oft nicht so gegeben sind wie in Städten. Deshalb will ich Multiplikatoren und Netzwerkpartner, wie z.B. Akustiker finden, die meine Idee unterstützen und mit mir in die Breite tragen.

Lieber Herr Weihbrecht,
vielen Dank, dass Sie Ihre Erfahrungen und die Begeisterung für Ihr Herzensthema Audiotherapie mit uns geteilt haben.

Ich hoffe, Sie können viele Menschen mit Hörbeeinträchtigung erreichen, ihre Last der Kommunikation verringern und sie auf dem Weg zu mehr Lebensqualität und Teilhabe unterstützen. Und ich hoffe, Sie können auch uns Guthörende sensibilisieren, damit wir alle unseren Beitrag zu gelingender Kommunikation leisten können.

Informationen zum Kommunikationspuzzle von Mathias Weihbrecht sowie Termine u. Aktuelles sind unter www.der-audiotherapeut.de einsehbar.

Weitere Informationen zum Thema Audiotherapie finden sich auf der Homepage des Deutschen Schwerhörigenbunds.

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Bildquellen:
© Kontextpartner und Mathias Weihbrecht – eigene Aufnahmen

Über die Autorin

Autorenportrait Carmen

Ich bin Carmen Hick.

Als Schriftdolmetscherin unterstütze ich Ihre Kommunikation – individuell und in Ihrem persönlichen Umfeld.